Die Preisgabe der Vorsichtsmaßnahmen
Am 24. November notiert Rasenack in seinem Tagebuch, dass um die Mittagszeit Langsdorff seine Offiziere versammelte und denen erklärte, dass nun alle Vorbereitungen für die Rückkehr in die
Heimat getroffen werden sollen. Und er fügte hinzu, dass entgegen dem bisherigen Befohlenen, jedes Schiff, das gefunden wird, versenkt wird – auch mit dem Risiko das eigene zu verlieren!
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Am 26. November nimmt Langsdorff im KTB eine Analyse vor. Lagefeststellung, Lagebeurteilung und Entschluss.
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Besonders beachtenswert ist der Absatz II., wo er sich direkt auf den Operationsbefehl bezieht und von dem bekannt ist, dass dieser u.a. ausdrückt, dass die Bekämpfung feindlicher
Seestreitkräfte, auch unterlegener, nur dann zu erfolgen hat, wenn es die Hauptaufgabe erfordert.
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Diese operative Einschränkung betrachtet Langsdorff nun bei seinen Überlegungen eher als sekundär und gedenkt eventuelle Feindberührungen nicht mehr grundsätzlich aus dem Wege zu gehen.
Er begründet das zum einen, mit der Absicht im Januar ohnehin den Rückmarsch anzutreten und mögliche Treffer hinnehmbar seien. Darüber hinaus spielt in seinen Überlegungen die starke
Artillerie eine Rolle, die fast jeden Gegner zumindest stark beschädigen würde. Zum anderen, weil bei den außergewöhnlichen guten Sichtverhältnissen im Südatlantik, egal ob am Tag oder in den
Mondnächten, das Abschütteln eventueller Fühlungshalter ohnehin nicht möglich wäre.
Die Zusammenfassung ist der Vollständigkeit wegen in der Galerie einzusehen.
Ob dieser Sachverhalt das entscheidende Kriterium war, um eine Neubewertung der Lage vorzunehmen und von seiner Handlungsfreiheit als Kommandant Gebrauch zu machen, Taktik, Mittel und Wege
zur Erreichung des Zieles, seiner eigenen Entscheidung zu überlassen, kann angenommen werden … Aber es erklärt nicht alles.
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Eine latente Preisgabe der Vorsichtsmaßnahmen ist durchaus wahrnehmbar.
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Dieser Eindruck findet sich auch, in der Folge der weiteren taktischen Vorgehensweise, wieder.
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Dem KTB ist für den 02. Dezember zu entnehmen, dass gegen 12:25 Uhr, das Bordflugzeug war, gerade 30 Minuten vorher gestartet, auf 450 hm (45 km) eine Rauchfahne gesichtet wird. Da 20
Minuten später immer noch eine Entfernung von 420 hm gemessen wird, geht man davon aus, dass der Dampfer mit Höchstfahrt davon läuft. Um 13:37 Uhr bei einer gemessenen Entfernung von 220 hm,
also 22 km, wird ein Warnschuss abgegeben und zum Stoppen aufgefordert. Der Dampfer dreht bei und beginnt einen Notruf abzusetzen – es wird versucht, das Funken mit dem eigenen Marconi-Sender
zu stören. Ein weiterer Schuss veranlasst zunächst das Einstellen, aber danach beginnt das Funken erneut und wieder wird versucht, mit eigenem Sender zu stören. Es wird aber auch nicht mehr
gefeuert, "damit der Dampfer nicht weiter flüchtet" und erst um 14:31 Uhr, also gut eine Stunde später, geht das Prisenkommando an Bord.
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Um die Entwicklung dieses Vorganges genau darzustellen, ist der Eintrag im KTB abgebildet. Was sich hier vielleicht zunächst als eine nüchterne Schilderung der Sachlage darstellt, ist
eigentlich der Vorspann zu einem, in den nächsten 12 Tagen, sich anbahnendes Ereignis, das im Nachhinein nur noch als tragisch zu bewerten ist.
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Das Bordflugzeug ist nicht erreichbar, weil wieder einmal ein Defekt zu beklagen ist.
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Die "Doric Star" ist ein Kühlschiff, das die so nötige Kohlensäure zwar an Bord hat, aber aus Zeitgründen nun nicht mehr umgeladen werden kann.
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Denn die Funksprüche des Dampfers sind von der Station Simonstown in Kapstadt empfangen worden und an alle Kriegsschiffe weitergeleitet.
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Darüber hinaus muss damit gerechnet werden, dass der Funkverkehr zwischen der "Graf Spee" und dem Bordflugzeug auch gehört worden ist.
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Später erklärte Kapitän Stubbs in Montevideo, dass anfangs die Absicht bestand das Schiff zu versenken. Weil aber sowohl ein britisches als auch ein griechisches Schiff auf den Notruf
geantwortet hatte, ließ man das bleiben. Auch erklärte er, dass als geschossen wurde sich die Explosionen auf einige 100 bis 200 Yards entfernt des Dampfers auf Steuerbordbug ereigneten und
von dem Schiffsrumpf der "Graf Spee" noch nichts zu sehen war! – nur der Gefechtsmast über dem Horizont.
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Zusammengefasst muss erkannt werden, dass die Abkehr von der bisherigen taktischen Vorgehensweise, möglichst nahe an die Prise heranzukommen, um ein Funken zu unterbinden, ein Fehler war.
Das war inzwischen auch Langsdorff klar geworden, so dem Tagebuch von Rasenack weiter folgend, und er entschied sofort, mit 22 kn nach Westen zu gehen und südamerikanisches Gebiet
aufzusuchen.
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Ob diese taktische Abkehr der Neubewertung der Lage geschuldet war oder der Absicht vor der Rückkehr noch einiges an Schiffstonnage Aufzubringen zumal das bisher erreichte von 28.000 BRT
keine Menge war oder eine Mischung aus beiden kann seriös nicht beantwortet werden. Schon aber, dass dieser Fall dem Kriegsgegner ungewollt jetzt konkrete Anhaltspunkte lieferte und dem
Schiffsverkehr in dieser Gegend die Lage darlegte und wie es im folgenden Fall erkennbar wird.
Über das spätere Ereignis, das dem KTB für den 06. Dezember zu entnehmen ist, wurde auch schon berichtet.
In heller Mondnacht begegnete der "Graf Spee" um 22:42 Uhr ein abgeblendetes Fahrzeug. In Unkenntnis, ob es sich hierbei um ein britisches oder gar deutsches Schiff handelt, das den
Durchbruch wagte, entschied sich die Schiffsführung, es weiter ziehen zu lassen. Dem KTB ist zu entnehmen, dass die Funkbeobachtung ergab, dass nicht gefunkt wurde.
Die Wahrnehmung einiger Besatzungsmitglieder war aber eine andere. Später wurde übereinstimmend berichtet, dass der Dampfer später anfing, emsig zu funken und eine detaillierte
Standortmeldung meldete. Auch war von einem norwegischen Schiff die Rede. Endgültig ist der Vorfall nicht mehr zu klären und ob die Scheinwerferübung, die in der Abenddämmerung eine Stunde
abgehalten wurde, ggf. eine Auswirkung auf diese Begegnung hatte, ist auch unklar.
Auffallend ist nur die sehr unterschiedliche Wahrnehmung und das gerade diese Begegnung so sehr in Erinnerung blieb.
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Für den 07. Dezember ist dem KTB zu entnehmen, dass gegen 18:43 Uhr der Dampfer "Streonhalh" aufgebracht wird. Es wird kein Notruf abgesetzt, aber es wird beobachtet, wie der Kapitän zwei
Säcke über Bord wirft – ein Sack kann vom Prisenkommando geborgen werden. Es stellt sich heraus, dass der Kapitän auf das Funken verzichtet hat, um nicht unnötig seine Besatzung zu gefährden,
aber sämtliche Geheimdokumente und Schiffspapiere in die Säcke hat verschwinden lassen.
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Aus den Dokumenten ist zu erfahren, von wo er herkam, welche die wahrscheinlichste Route ist, die er nehmen wollte, aber auch den möglichen Ansteuerungspunkt vor der La Plata -
Mündung.