Die zwei Pistolen
Nun zu den drei kritischen Punkten:
Der erste Punkt betrifft das Protokoll. Warum wurden die argentinischen Justiz-Behörden erst um 12:00 Uhr von der Deutschen Botschaft benachrichtigt, also 6-7 Stunden nachdem man Langsdorff
leblos im Zimmer gefunden hatte? Wobei auch noch berücksichtigt werden muss, dass die schon hochsommerlichen Temperaturen für so einen langen Zeitraum nun wirklich nicht geeignet
waren.
Die zweite Punkt betrifft die Pistole. Legenden sterben nicht aus. Vielleicht liegt es daran, dass das, was nicht besteht, auch nicht entkräftet werden kann. Solche finden sich auch in dem "Graf Spee" – Ereignis.
Eine davon ist die "Sage", dass der I AO FKpt. Ascher Langsdorff die Pistole gegeben hätte – es gibt nirgends einen belastbaren Beweis dafür. Bis auf LtzS. Dietrich, der Einzige, der diese Geschichte aufgebracht hat und meinte, dass der Grund darin lag, dass Langsdorff diese als Schutz haben wollte.
Ja, vor wem oder was wollte er sich denn schützen? Sowohl das Marinearsenal als auch das Hotelgelände war militärisches Gebiet und hatte eine permanente Wache.
Mit Schreiben vom 18. Dezember 1939 ordnete bekanntlich der Marineminister A. Pantín bereits an, dass die gesamte Zone Dársena Norte, die das "Arsenal Naval" und das "Hotel de Inmigrantes" beinhaltete, eine verstärkte Wache erhalten sollte, die ständig einem alleinigen Offizier unterstellt war.
Zunächst durfte die Besatzung das Hotelgelände überhaupt nicht verlassen – für die Weihnachtstage gab es Erlaubnisscheine. Erst ab Januar 1940, als die Personalien festgestellt waren und ein Internierungsausweis vorhanden waren, wurde es offener. Und das Betreten des Geländes durch Besucher bedurfte auch einer schriftlichen Erlaubnis von der Deutschen Botschaft – alles schon berichtet.
Der Weg zwischen dem Hotel und dem Arsenal wurde auch schon beschrieben; also, was sollte denn auf dieser kurzen Distanz Langsdorff widerfahren!
Das heißt im Klartext, dass selbst wenn einige Besatzungsmitglieder eine Waffe führten, diese, nach dem an Land gehen in Buenos Aires, unverzüglich hätten abgeben müssen. Das wurde schon frühzeitig, als die beiden kleineren Boote mit Behördenvertreter der Hafenpräfektur und dem deutschen Botschafter, die den Schleppern entgegen fuhren und längsseits kamen, geklärt.
Denn gegen wen oder was hätten sich die Besatzungsmitglieder in Allgemeinen und das Sanitätspersonal im Besonderen verteidigen müssen? Man stelle sich nur vor, draußen vor dem Zaun stehen bewaffnete argentinische Marinesoldaten und drinnen hinter dem Zaun laufen bewaffnete deutsche Marinesoldaten herum – also auf so einen Unsinn muss man erst kommen.
Aber man muss darüber auch nicht weiter spekulieren, denn es gab u. a. von dem ehemaligen Speefahrer Ob.Masch.Mt. H. Götz, vom Masch.Ob.Gefr. H. Neumann und vom Masch.Ob.Gefr. P. Kus, der übrigens erst im Jahr 2006 verstarb, die Aussage gegenüber Familienangehörige, die sich heute noch gut erinnern können, dass vor dem an Land gehen nur die Waffen, die von den Besatzungsmitgliedern getragen wurden, die bis zuletzt an Bord der "Graf Spee" waren, um die Sprengung vorzubereiten. Alle anderen Waffen sind mit der Sprengung ohnehin vernichtet worden oder auf der Außenreede des Hafens von den Schleppern aus über Bord geworfen worden.
Und wieder gibt es eine interessante Einlassung von Rasenack. Er schrieb damals in den 90er Jahre einen Bericht für ein Mitteilungsblatt einer Marinekameradschaft über den Verbleib einiger Flaggen und darin findet sich auch eine besondere Passage. Er schreibt, dass der Botschafter Dr. Terdenge nach seiner Akkreditierung ihm anlässlich eines Besuches in der Botschaft mitteilte, dass die argentinische Marine ihm ein Kasten u.a. mit Pistolen übergeben hatte.
Um es also noch einmal zu präzisieren!
An Bord der "Graf Spee" hatte kein Besatzungsmitglied eine eigene Schusswaffe, auch nicht die Offiziere. Waffen waren natürlich vorhanden, wurden aber nur bei bedarf ausgegeben. Die Prisenoffiziere waren z. B. mit einer Pistole, und das ausgewählte Prisenkommando mit Gewehren, für den Zeitraum ausgestattet, in dem diese auf ein Aufgebrachtes Schiff während des Handelskrieges, übersteigen mussten – die Waffenausgabe war also begrenzt.
Nein, die Waffe kam nicht von einem Besatzungsmitglied. Sehr gut möglich, dass diese Tat zu diesem Zeitpunkt auch nicht zu verhindern war, aber sie kam mit Ansage. Damit zu rechnen war es allemal. Der engste Personenkreis um Langsdorff herum hat folglich seinen Tod "nur" billigend in kauf genommen.
Aber nach dem Krieg, als die "Veteranentreffen" stattfanden und über alles Mögliche debattiert wurde, aber auch als ehemalige Besatzungsmitglieder begannen, sich in Marinekameradschaften wiederzufinden und zu organisieren, wäre es sehr wünschenswert gewesen, hätte man auch diesem Geschehen die nötige Aufmerksamkeit und Aufrichtigkeit geschenkt. Dann wäre den Menschen, die aufrichtig Interesse an dem Spee - Ereignis hatten und haben, so manche Legenden erspart geblieben.
Und so, wie bei jeder menschlichen Tragödie, gab es auch hier Nutznießer.
Deutschland, so ließ man der Welt damals wissen, eile gegenwärtig von einem Sieg zum nächsten. Und da kamen die Handlungen von Langsdorff seit dem Tage nach dem Gefecht und das Einlaufen in Montevideo der deutschen Außenpolitik und so auch der diplomatischen Vertretungen in Uruguay und Argentinien denkbar ungelegen.
Das Verhalten von Langmann, Leiter der Auslandsvertretung in Montevideo, war das Spiegelbild dafür. Und ob Langsdorff in dem Militärattaché KptzS. Niebuhr wirklich einen Unterstützer hatte, nur weil dieser auch der Kriegsmarine angehörte, wäre auch noch zu beweisen.
Niebuhr hatte keine diplomatischen Ziele, der wollte mit dem Belassen der Debeg-Funker, Inspektoren und fünf Funkmaate eher den E-Dienst in Uruguay aufbauen – das ist ja dem KTB zu entnehmen. An einer aussichtsreichen Lösung für Langsdorff und sein Schiff glaubte er genauso wenig wie alle andern.
Diese letzte Handlung von Langsdorff brachte der NS-Propaganda nur Vorteile – besser konnte es nicht kommen! Wer bis dahin vor dem Hintergrund eines verlorenen Gefechts, einer fraglichen Entscheidung für Montevideo, der Nichtwiederaufnahme des Kampfes und der Sprengung des eigenen Schiffes, "die ruhmreiche Handlung" infrage gestellt hatte, verstummte jetzt. Selbst die tief-kritische Presse, auch die britische, viele waren es ohnehin kaum, schlug einen anderen Kurs ein. Aus dem Gefecht war doch noch ein später Sieg hervorgegangen.
Im KTB ist für den 20. Dezember 1939 notiert >> die moralische Auswirkung des Freitodes von Kapitän zur See Langsdorff auf die argentinische Öffentlichkeit ist außerordentlich und erstreckt sich auch auf uns bisher feindlich gesinnte Kreise <<[…].
Was jetzt noch zu tun blieb, war die Herkunft der Pistole zu lenken.
Der Sachverhalt, dass am Abend des 19. Dezember "ein Mann" der deutschen Botschaft, der von Langsdorf vorher angesprochen worden war und um eine Pistole verlangt, hatte, dieses einem Offizier der "Graf Spee" erzählte und hinzufügte: >> Achten sie heute Nacht auf ihren Kapitän <<[…] ist bekannt und nie ernsthaft infrage gestellt worden. Ob, wie schon angemerkt, der Begriff "Kapitän oder "Kommandant" benutzt wurde und ob es sich demzufolge um eine abweichende Übersetzung handelt oder nicht, ist unklar.
Klar ist, dass die Angehörigen der Deutschen Botschaft in Buenos Aires von Anfang an erheblichen Einfluss auf die Geschehnisse nahmen. Die Lage in Argentinien 1939 war durch eine NS-Ideologie stark beeinflusst – im Abschnitt "Die Parallelgesellschaft" wurde ausgiebig darüber berichtet.
Diese Personen, die schon an den Verhandlungen in Montevideo teilnahmen, waren durchaus in der Lage, jederzeit Ereignisse und Abfolgen nachträglich zu manipulieren.
Zum einen gibt es das Protokoll der argentinischen Behörden, die einzelnen Dokumente sind in der Galerie bekanntermaßen einzusehen, in dem detailliert beschrieben wird, was diese bei dem Eintreffen vorgefunden haben:
Die unabwendbare Frage ist: Warum wurden die argentinischen Justiz-Behörden erst um 12:00 Uhr von der Deutschen Botschaft benachrichtigt, also 6-7 Stunden, nachdem man Langsdorff leblos im Zimmer gefunden hatte, wobei auch noch berücksichtigt werden muss, dass die schon hochsommerlichen Temperaturen für so einen langen Zeitraum nun wirklich nicht geeignet waren.
Welche Handlungen haben soviel Zeit in Anspruch genommen …
Darüber hinaus gibt es aber ein Formular, beidseitig abgebildet, dass die Lage nicht einfacher macht. Es ist ein Formular, das für gewöhnlich zur Registrierung der ankommenden Einwanderer auf dem Gelände der "Dársena Norte" genutzt wurde.
20. Dezember 1939 – Unterschrift. Stempel Rep. Argentina.
Allgemeine Marine – Präfektur – Einheit Dársena Norte
Auf dem Etikett, in dem Fall ein Paketanhänger und auf einem Formular befestigt, ist Folgendes zu lesen:
Auffallend sind die persönlichen Daten. Der Nachname ist hier, im Gegensatz zu dem ersten Formular, falsch geschrieben und das Alter wird mit 44 angegeben – müsste aber 45 sein. Und das Geb. Datum und das Geb. Land ist in Rot geschrieben und nicht in Blau wie im ersten Formular – diese Dokumente sind offensichtlich nicht zeitgleich erzeugt worden. Anderenfalls hätte man ja sinnigerweise den Paketanhänger gleich an das erstgenannte Formular befestigen können.
Und nun wird es spannend!
(Diese Nummer als Zahl geschrieben: 506.585 - Anm. d. Aut.)
( Diese Nummer als Zahl ausgeschrieben wäre: cuatrocientos noventa y ocho milsetecientos veinte y dos - Anm. d. Aut.)
Warum ist diese Pistole in die Welt geraten? Eine mögliche Erklärung könnte sein, dass die genutzte Pistole wieder dort hin sollte, wo sie herkam und daher eine andere her musste, die als Asservat dienen sollte. Dienstwaffen hatten eine Besitz- oder Inventarnummer gestempelt. Diese Pistolen, die in die obigen beiden Seriennummern eingebettet waren, fanden verbreitete Anwendung bei der Kriegsmarine, der Polizei und im Privatbereich, die sogenannte Eigentumsvariante. Die KM – Variante hatte zusätzlich einen Abnahmestempel - Reichsadler mit HK über einem M; ohne Flottenbesitzstempel. Die Eigentumsvariante hatte weder einen Abnahmestempel noch eine Besitz- oder Inventarnummer – lediglich eine Seriennummer.
Jedenfalls setzte dieser Betrug voraus, dass der Suizid sofort als geklärt galt und der Fall abgeschlossen war. Zusätzlich musste sicherstellt sein, dass das Protokoll und das Formular, wegen der verschiedenen angegebenen Pistolennummern, getrennt aufbewahrt wurden.
Das hat ja dann lange Zeit auch offenbar gut funktioniert; aber dann wurden die Archive in Argentinien, wie auch in Deutschland, öffentlich und der Betrug auch – wenn auch erst jetzt.
Was genau damit beabsichtigt wurde, ist jedenfalls acht Jahrzehnte danach nicht mehr zu klären. Aber es ist erfreulich, nach dieser ebenfalls so langen Zeitspanne doch noch eine solche Irreführung aufzudecken!